© Tatiana Lecomte

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  1. Meine erste Löwin (2017)

    Herausgeber
    Reinhard Braun

    Gestaltung
    Satz & Sätze, Graz

    Text
    Franz Thalmair

    Lektorat
    Margit Neuhold, Sabine Weier

    Übersetzung
    Dawn Michelle D'atri, Wilfried Prantner

    Bildbearbeitung
    C.E.I.S.1 & [RIMAGE GENGI]2

    Format
    15,5 x 21 cm

    Druck
    Christian Theiss GmbH, St. Stefan im Lavanttal

    Verlag
    Edition Camera Austria, Graz

    Deutsch / Englisch

    Auflage
    300

    ISBN 978-3-902911-33-9

  2. Klappentext

    Reinhard Braun

    Das fotografische Ausgangsmaterial mit dem Tatiana Lecomte in freier Assoziation hantiert, das sie sich »ausborgt«, wie sie ihren Umgang damit selbst bezeichnet, ist nicht nur in einem allgemeinen historischen Zusammenhang zu sehen, sondern insbesondere auch in der Geschichte der Fotografie verankert. Bilder, die Safaris in Afrika dokumentieren und das Erlegen der Tiere zu Heldentaten stilisieren, Fotos zur Haustierzucht, die ein romantisch-verklärtes Bild zeichnen, medizinische Abbildungen, Illustrationen für Kochrezepte, Unterwäschewerbung.

    In ihrer Arbeit verweist Lecomte immer wieder auf Geschichte als Laboratorium von Macht und Gewalt, ein Laboratorium, das auch von Blicken und Bildern beherrscht wird. Sie nimmt die Rolle derjenigen ein, die zeigt, was bereits zu sehen war und was dadurch verdeckt und in der Sichtbarmachung verschwiegen wurde. Meine erste Löwin ist sowohl eine Montage als auch eine Reflexion über das Prinzip der Montage – und letztendlich über die Möglichkeiten und Bedingungen der Fotografie selbst.

    ________________________________________________

     

    Franz Thalmair

    Aneignungsaneignung

    Ausschau halten.
    Mit dieser Strategie operiert nicht nur der Großwildjäger, der auf der Spitze der felsigen Erhebung nach etwas sucht, auf das sich sein nächster Schuss konzentrieren kann. Sein Körper ruht am Gewehr und die Hand wie ein Schirm über den Augen. Sein Blick wird vor der Sonne geschützt und stellt auf die beweglichen Elemente in der sonst so ruhigen Landschaft scharf.
    Mit Blitzlicht und Büchse.
    Ausschau halten nach existierenden Bildern, in obsolet gewordenen Büchern, bei  Altwarensammlungen, bei jeder Gelegenheit – Ausschau halten nach bereits besprochenen Themen, nach bereits gestalteten Formen, nach Verwandtschaften, Übereinstimmungen und Entsprechungen. Ausschau halten ist auch jene Strategie, die Tatiana Lecomte in ihrer künstlerischen Arbeit mit und über Fotografien anwendet.
    Ausschau halten ist fotografisches Handeln. Ausschau halten zielt auf Bildinhalte ab. Für Ausschau halten bringen die Fotografinnen und Fotografen ihre Körper in Stellung – sie beziehen Position.
    Lecomte ist eine Fotografin, sie arbeitet jedoch nicht mit herkömmlichen fotografischen Methoden. Im Gegensatz zum Großwildjäger zum Auftakt von Meine erste Löwin und im Unterschied zur gängigen Fotopraxis ist ihr Verhältnis zum eigenen Untersuchungsgegenstand, dem Medium der Fotografie, von einem Sich-Finden-Lassen und nicht vom Sucher und Suchen geprägt. Das fotografische Ausgangsmaterial, mit dem die Künstlerin in freier Assoziation hantiert, das sie sich »ausborgt«, wie sie ihren Umgang damit selbst bezeichnet, ist nicht nur in einem allgemeinen historischen Zusammenhang zu sehen, sondern insbesondere auch in der Geschichte der Fotografie verankert. Bilder, die Safaris in Afrika dokumentieren und das Erlegen der Tiere zu Heldentaten stilisieren, Fotos zur Haustierzucht, die ein romantisch-verklärtes Bild zeichnen, medizinische Abbildungen, Illustrationen für Kochrezepte, Unterwäschewerbung. Der Großteil des von der Künstlerin verarbeiteten Fotomaterials stammt aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und schreibt sich bis heute unweigerlich in das kollektive Bildgedächtnis ein, das jüngst durch das vermehrte Zirkulieren der Sujets im digitalen Raum in Bewegung geraten ist. Lecomte löst die Fotografien aus ihrem historischen Kontext und setzt sie in den aktuellen Bilderstrom des 21. Jahrhunderts wieder ein. Indem die Künstlerin im Verlauf des Buchs etwa die Porträts afrikanischer Stammesmitglieder, einer deutschen Hundezüchterin oder der Figur des Großwildjägers durch abgebildete Gesten, formale Analogien und nicht zuletzt durch den alles nivellierenden Entzug von Farbe gleichsetzt, indem sie repetitive Muster zum Thema macht, führt sie systematisch Bildtypen vor, deren Ästhetik sich bis heute hält.
    Mein Paradies Afrika.
    Serengeti darf nicht sterben.
    Die Löwin ist tot.
    Dem Tier fehlen die Pfoten. Sie sind jetzt Trophäen. Sein Körper wurde beschnitten, er liegt am Boden im Staub wie ein Gebrauchsgegenstand, der ausgedient hat – erschossen, zurechtgestutzt, entsorgt. Der Zauber der Suche ist längst verflogen. Der Sucher hat ausgedient.
    Das Haustierbuch. Vom Wesen, der Schönheit und dem Nutzen unserer Tier-Kameraden.
    Auf Tiersuche in weiter Welt.
    Lecomte beschneidet ihre Fotografien, je nachdem welcher Aspekt, welches Detail daraus gerade für die Konstruktion ihrer Erzählung relevant ist. Die Künstlerin beschneidet abgebildete Körper, sie beschneidet den medialen Körper, sie stutzt sich ihre eigenen Bildinhalte und -formate zurecht. Der Rest kommt andernorts zum Einsatz oder wird einfach weggeworfen. Das ist eine Praxis, der Geringschätzung gegenüber dem fotografischen Material – gegenüber der Idee des Originals und seiner Autorinnen und Autoren – vorgeworfen werden kann. Indem Lecomte jedoch das Foto als profanen Gebrauchsgegenstand bewertet und auch als solchen behandelt, frei von Nostalgie und Idealisierung, zollt sie dem fotografierten Subjekt Respekt. Es ist ein Versuch, die Löwin von ihrem Zweck zu befreien, allein für die Fotografie getötet worden zu sein. Für das Dokument – für das Fell und für das Foto.
    »Take no liberties with dangerous animals«.
    Meine erste Löwin reiht sich in eine Liste nicht näher bestimmter Bücher ein: Seite für Seite, Blatt für Blatt, stets dem linearen Verlauf der Ausdrucksform Buch folgend. Das reprofotografierte Bildmaterial aus Büchern sind in Meine erste Löwin miteinander verwoben, sie stehen sowohl auf der Fläche der einzelnen Buchseiten in Beziehung, als sie auch über ihre Inhalte verkettet sind. Ein Bildelement ergibt das andere, eine Form wiederholt und wiederholt sich, bevor sie in die nächste übergeht, die Geste einer abgebildeten Person wird zur unbewussten Bewegung eines Tiers, wird wieder zur willentlichen Geste. Die linke Buchseite ergänzt die rechte, die rechte steht im Widerspruch zur Folgeseite, also wieder zur linken. Umblättern, das Blatt wenden, mit der eigenen syntaktischen Konstruktion brechen, den Satz abrupt beenden und an einer anderen Stelle fortführen, den Text immer wieder auf sich selbst zurückfallen lassen.
    Rote Grütze.
    Onkel Toms Hütte.
    Die Erziehung und Abrichtung des Hundes.
    Dermatologie.
    Gari Gari. Der Ruf der Afrikanischen Wildnis.
    Praktische Angorakaninchenzucht und Wollgewinnung.
    Geheimnisvolle Inseln Tropen-Afrikas.
    Typen und Tiere im Sudan.
    Deutsche Raubvögel.
    Flottierend öffnen sich die Verweise und schließen sich im gleichen Moment wieder. Die Erinnerung an ein Bild formt den Blick auf das ihm folgende, auf das ihm folgende, auf das ihm folgende – bis die Erinnerung durch eine neue ersetzt ist. Die Vorahnung auf das nächste Bild schürt Erwartungen – bis diese enttäuscht werden. Eine neue Wendung. Wie in einem Roman ergeben sich Sinn und Zusammenhang in Meine erste Löwin erst durch die Lektüre und im assoziativen Fluss der Betrachtung, der dem Format des visuellen Essays Rechnung trägt. Die Akteurinnen und Akteure des Buchs – Menschen, Tiere, ihre Gesten, ihre Haltungen, ihre Bewegungen und Formen – lassen erst nach einer Weile des Spiels ihr Netzwerk erkennen.
    Bei all der Treue zu ihrem eigenen Ausdrucksmittel und der im künstlerischen Prozess stets präsenten Reflexion seiner Charakteristika geht Lecomte mit Meine erste Löwin aber auch weit über die Zweidimensionalität und Linearität des Buchs hinaus. Um den Inhalt der einzelnen Seiten zu entwickeln und um ihre Narration zu konstruieren, hat die Künstlerin im Vorfeld ein besonderes Verfahren entwickelt: Mit dem Sucher ihrer Fotokamera fährt sie eine Bildtafel ab, auf der das aus Büchern unterschiedlichster Provenienz stammende, bereits reprofotografierte Material mit Klebestreifen befestigt ist. Hiermit bleibt der Prozess der Montage sichtbar und zusätzlich zieht Lecomte eine weitere Ebene ein, indem sie ihren eigenen Blick auf die gänzlich vor ihr ausgebreitete Geschichte punktuell – für die einzelnen Buchseiten – fixiert und immer wieder den Auslöser betätigt. »Und die Montage ist der Beleg dafür: Die Künstlerin oder der Künstler verfertigt eine Kopie von Fragmenten anderer Objekte, oder auch von Ganzheiten, die nun zu Teilen eines neueren, größeren Gefüges werden. Aber diese Elemente sind keine bloßen Einzelteile, die man wie Lego-Bausteine zusammensetzt; sie enthalten in gewisser Weise auch das Ganze, dem sie entnommen sind – und werden sie Teil einer Montage, so wirkt die dabei stattfindende Veränderung der Fragmente auch auf das Original zurück, dem sie entstammen.« 1 Als wollten die Bilder den Betrachterinnen und Betrachtern mitteilen, nimm uns ab, befestige uns an einer anderen Stelle, schreib die Geschichte selbst, schreib Geschichte.
    Gari Gari. Der Ruf der Afrikanischen Wildnis.
    Rote Grütze.
    Die Erziehung und Abrichtung des Hundes.
    Dermatologie.
    Dermatologie.
    Praktische Angorakaninchenzucht und Wollgewinnung.
    Dermatologie.
    Deutsche Raubvögel.
    Geheimnisvolle Inseln Tropen-Afrikas.
    Onkel Toms Hütte.
    Typen und Tiere im Sudan.
    So erdacht und variabel das Verhältnis der Bildelemente in Lecomtes Buch zueinander ist, so konstruiert und wandelbar ist das Phänomen von Geschichte an sich. Dabei ist es nur schlüssig, dass das eigene künstlerische Verfahren – die Bildtafeln, die Stationen des Suchers, die Klebestreifen, die Anschnitte und Wiederholungen – fingiert sind. »Daraus folgt, dass bei Appropriationen immer auch der je spezifische Umgang mit dem angeeigneten Material und das Zusammenspiel von Angeeignetem und konkretem Aneignungsverfahren in den Fokus rücken müssen.« 2 Die künstlerische Methode, jene der Montage reproduzierter Fotografien in einem durch und durch inszenierten Zusammenhang, wird in Meine erste Löwin schließlich selbst zum Material der Montage. Das Verfahren wird im Produkt sichtbar. Das Buch ist sowohl eine Montage als es auch über die Montage als Prinzip reflektiert.
    Blickwechsel.
    Schuss und Gegenschuss.
    Die Arme der badenden Frau sind leicht abgewinkelt, ihre Hände ruhen zueinander am Oberschenkel. Im hellen Bikini. Sie lächelt, aber wirkt verhalten, etwas beschämt ob ihrer durch die Savanne erzwungenen Freizügigkeit, gleichzeitig stolz auf ihre abenteuerlichen Erlebnisse. Ganz wie die beiden Nashörner auf dem Bild oberhalb steht sie in einem Wassertümpel. In imaginierter Nachbarschaft zu den wilden Tieren, gefährlich nahe. Linke Buchseite – rechte Buchseite.
    Die Arme des Unterwäschemodells sind leicht abgewinkelt, seine Hände ruhen zueinander zwischen den Oberschenkeln. Im hellen Unterhemd, dem Anschein nach unten ohne, er auch, leicht beschämt. Er scheint sein Geschlechtsteil vor dem Blick der Eingeborenen verbergen zu wollen. Auf der gegenüberliegenden Buchseite starren sie durch ein Kameraobjektiv auf ihn herüber. Nicht nur ihr Blick bricht durch die Grenzen des Buchraums, auch das Foto liegt über dem Falz und kommt dem Trägermedium des fotografierten Subjekts gefährlich nahe.
    Wer hält die Kamera in der Hand, wer hat sie im Gesicht? Lecomte kehrt in dieser Schlüsselszene die Rollen um. Der westlich geprägte Blick auf Afrika und seine Einwohnerinnen und Einwohner, das Foto einfacher Menschen, die ein elaboriertes technologisches Gerät wie das des Fotoapparats bestaunen, wird in der Montage mit anderen Fotografien umgedeutet. Die Appropriation des Materials – das »Ausborgen« – lässt schließlich nicht nur eine differenzierte Sichtweise auf die im Foto dargestellten Inhalte zu, sondern auch auf die Möglichkeiten und Bedingungen der Fotografie selbst.
    Schuss und Gegenschuss.
    Blickwechsel.
    Nur eine Doppelseite nach dem Unterwäschemodell ist eine Strecke mit afrikanischen Mädchen bei ihrem Bad im Fluss zu sehen. Alle nackt, niemand beschämt. Die Bildsequenz beginnt mit einem Haufen Stroh. Ein Haufen, der den Zweck hat, Tiere aus einem geschützten Versteck zu beobachten – und zu erlegen. Ein Haufen, der dem voyeuristischen Blick der Kamera dienlich ist.
    Afrika. Traum und Wirklichkeit.
    »Das Objekt der Appropriation in diesem Sinn muss heute dazu gebracht werden, nicht nur von seinem Ort in der strukturellen Ordnung der materiellen Kultur der Gegenwart zu sprechen, sondern auch von den anderen Zeiten, denen es angehört, und den verschiedenen historischen Vektoren, die es durchqueren. Es besteht also die Hoffnung, dass das Ausstellen des appropriierten Objekts heute immer noch diese plötzliche Einsicht hervorzurufen vermag, diese Fähigkeit besitzt, die wir kennen, seit Duchamp einen Flaschentrockner in einem Museum ausstellte, nämlich zu zeigen, was es für etwas (in einem bestimmten sozialen Kontext und historischen Moment) bedeutet, etwas zu bedeuten. Wir vertrauen also darauf, dass das appropiierte Objekt von sich aus imstande ist, die rätselhaften historischen Beziehungen und Dynamiken aufzudecken, die heute darüber entscheiden, was etwas bedeutet.« 3 Mit der Appropriation des historischen Bildmaterials stellt Lecomte ebendieses Material neu zur Diskussion. Die Künstlerin eignet sich mit fotografischen Mitteln jene Momente an, die beim Blättern in Meine erste Löwin den Eindruck aufkommen lassen, Teil eines sich selbst erhaltenden Bildkreislaufs zu sein. Ein zirkuläres System, von dem man im Laufe der Zeit vergessen hat, auf wessen Kosten und mit welchen Absichten es entstanden ist. Meine erste Löwin erzeugt eine selbstreflexive Schleife und vermag so den Kreislauf zu unterbrechen. Das Moment der Aneignung wird zur Aneignungsaneignung.

     

    1 Marcus Boon, In Praise of Copying. Cambridge, MA: Harvard University Press 2010, S. 145. Übers. W. P.
    2 Annette Gilbert, »Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.) Wiederaufgelegt. Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern, Bielefeld: transcript Verlag 2012, S. 23.
    3 Jan Verwoert, »Living with Ghosts: From Appropriation to Invocation in Contemporary Art«, in: originalcopy, essay#1, http://www.ocopy.net/essays/jan-verwoert. [Stand: 30. März 2017] Übers. W. P.